Was sind die einzelnen Grundfunktionen der Geisteswissenschaften und wie sind diese für die Gesellschaft relevant?

Fünf Grundfunktionen der Geisteswissenschaften, die sich gegenseitig ergänzen, überschneiden und fördern, lassen sich unterscheiden: Bewahren, Deuten, Bewerten, Vorausdenken, Orientieren. 

Pour changer le monde, il est nécessaire de le comprendre

Bewahren

Die Geisteswissenschaften dokumentieren unterschiedlichste Lebensformen in Geschichte und Gegenwart, ihre Denkweisen und Vorstellungen in ihren beabsichtigten und unbeabsichtigten Wirkungen, in gegebenen Situationen gewählte und nicht gewählte Optionen.

Deuten

Das Verstehen von Symbolsystemen ist von hoher praktischer Relevanz: Über sie lassen sich die grundsätzlich möglichen Formen des Denkens und Deutens erkennen und sie erlauben es, die Bedeutungszuschreibungen von Individuen und Kollektiven aufzuklären. Vertiefte Kenntnisse unterschiedlicher Sinnstrukturen ermöglichen es, die grundlegenden Orientierungen von Individuen und Kollektiven und damit mögliche Erwartungen und Handlungen besser zu verstehen.

Bewerten

Die Geisteswissenschaften untersuchen die Entstehung und die Struktur von sozialen Werten und entsprechenden Handlungsmustern. Damit ermöglichen sie in einer pluralistischen Gesellschaft mit ihrer Vielfalt möglicher Antworten, dass diese Fragen überhaupt sinnvoll und undogmatisch diskutiert werden können.

Vorausdenken

Vorstellungen und Ideen ist stets eine utopische Kraft eigen, die die Menschen befähigt, ihre Welt umzugestalten, statt sich bloss den Gegebenheiten anzupassen. Die Geisteswissenschaften zeigen Handlungsmöglichkeiten und alternative Lösungswege auf und erlauben es, künftige Erwartungen, Handlungen und Reaktionen zu antizipieren.

«L’utopie n’est donc pas le propre des inutiles songe-creux; elle est le propre de l’homme qui pense, comme une pulsion permanente qui le pousse à connaître, à inventer, à créer.»

François Rosset
(Le temps, 29.9.2014)

Orientieren

Da weder die menschliche Natur noch die Umwelt dem Menschen die Ziele in hinreichendem Masse vorgibt, muss dieser Optionen beurteilen, bewerten und schliesslich wählen. Dies erfordert Verständigung, eine gemeinsame Orientierung sowie einen Fundus gemeinsamer Werte.

«Der Mensch schiesst nicht wie ein Pilz nach dem Regen fertig gestellt aus dem Boden»

Thomas Hobbes

Auf dieser Grundlage entsteht ein Orientierungswissen, das Erstrebenswertes und zu Vermeidendes bezeichnet. Das derzeit favorisierte Wissen will Probleme oft mit weiteren technischen Instrumenten lösen und schafft damit aller Wahrscheinlichkeit nach Folgeprobleme. Demgegenüber stellt das Orientierungswissen problemverursachende Ziele in Frage und sucht nach Alternativen.

Rein ökonomisch und strategisch argumentiert, muss es auch im politischen Interesse sein, geisteswissenschaftliche Zugänge bei konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen vermehrt zu berücksichtigen. So werden die Gesundheitskosten nicht sinken, so lange eine Verständigung über die sich auflösenden Grenzen zwischen Krankheit und Gesundheit ausbleibt, die Diskussion über das Lebensende nicht geführt wird und sich keine neue Kultur des Abschieds und des Sterbens etabliert. Auch das soziale Sicherungssystem wird erst stabile Grundlagen finden, wenn das Verhältnis zwischen Familien- und Erwerbsarbeit geklärt und neue Arbeitsformen, Altersbilder und -rollen gefunden werden.